“Die Natur schafft immer von dem, was möglich ist, das Beste.” (Aristoteles)
Kannst du dir vorstellen, auf einer unbewirtschafteten Alpe hoch oben in den Bergen, inmitten nahezu unberührter Natur, zu verweilen?
Ich meine, nicht nur nach einer Wanderung ankommen und am nächsten Tag wieder weiterziehen.
Sondern längere Zeit bleiben. Sein. Verweilen. Sich selbst die Zeit vertreiben müssen. Nur Natur um dich herum.
Ohne Strom, ohne Handyempfang, kein Fernseher. Bis auf andere mögliche Wanderer keine Menschen.
Was würdest du erwarten? Welche Gedanken gingen dir vorher durch den Kopf?
Ich wollte für mich herausfinden, wie ich das meistere. Welche Empfindungen ich mache. Wie ich diese Zeit erlebe.
Ein Selbstversuch in Entschleunigung. Mit einfachem Beginn: 40 Stunden in der Natur auf der Alpe Fiorasca.
(Fast) allein.
Sei gespannt darauf, wie es mir ergangen ist – und fast noch wichtiger: welche Erkenntnisse ich aus dieser Zeit gewonnen habe!
Entschleunigung in der Natur: eine Chronologie
1. Stunde: Nach fünf Stunden Wanderung und 1500 Höhenmetern bin ich auf der Alp Fiorasca angekommen. Umgeben von Bergen. Inmitten einer wunderschönen Landschaft. Die ersten Dinge, die ich tue: Infrastruktur erkunden, umziehen, frisch machen, einrichten, erste Fotos machen.
2. Stunde: Ich bin im Überlebensmodus: erst Essen kochen, dann essen. Der kalte Föhnwind lässt mich frösteln, auch weil er konsequent grosse Wolken vor die Sonne bläst.
3. Stunde: Mich überkommt das überwältigende Verlangen nach einem kleinen Nachmittagsschlaf. Siesta.
4. Stunde, 18.00 Uhr: Mein erster Versuch, Feuer zu machen und zu heizen, misslingt. Das Abendessen zu kochen (mit Gas) gelingt glücklicherweise. Es schmeckt und wärmt. Der Föhnwind treibt die Wolken hinfort, aber richtig warm wird es heute nicht mehr. Aus dem Frösteln wird ein leichtes Frieren. Die Natur kann unerbittlich sein.
5. Stunde: Die Sonne verschwindet hinter den Bergen. Ich lese. Dante Alighieris “Die göttliche Komödie” und Conni Biesalskis “Digital, unabhängig, frei” – gegensätzlicher geht es kaum. Die Abwechslung tut dem Gehirn aber gut.
6. – 16. Stunde: Schlafen. Lange, tief und fest. Ja, wirklich, ich habe zehn Stunden geschlafen. Der Anstrengung der Wanderung und der himmlischen Ruhe hoch oben in den Bergen sei Dank.
17. Stunde, 7.00 Uhr: Aufwachen, Morgentoilette und Frühstück draussen in der Sonne.
18. Stunde: Morgenwanderung & kurze Onlineaktivität: Amoklauf in Nizza und Putschversuch in der Türkei – schon wieder nur schlimme Nachrichten. Ich bin sofort wieder offline.
19./20. Stunde: Gerade in der Natur kann ich sehr gut arbeiten: Notizen machen für mein eBook “Tälerhüpfen im Tessin” und kommende Blogbeiträge.
Ich bin so vertieft, dass ich den Hubschrauber erst bemerke, als er 15 Meter vor mir zur Landung ansetzt. Der Pilot winkt zum Abschied. Irgendwie surreal. Drei Mitglieder des SAV Vallemaggia, dem die Alpe Fiorasca gehört, steigen aus. Dringende Arbeiten müssen erledigt werden. Reparaturen, weitere Ausbauten. Ich fühle mich in meiner Ruhe und Einsamkeit gestört. Sie laden mich zum Abendessen ein. Ich freue mich.
21. Stunde: Siesta und Meditation in der Sonne. Ein heftiger Anfall von Föhnwind lässt meine Wandersocken fliegen lernen. Ich muss sie wieder einsammeln. Ist es nicht schön, sich um solch belanglose Dinge kümmern zu können? Ich lese in meinen zwei Büchern, siehe 5. Stunde.
22. Stunde, 12.00 Uhr: Ein menschliches Grundbedürfnis meldet sich – Hunger. Resteessen vom Vortag, Nudelsuppe. Aufwaschen.
23. Stunde: Kleiner Mittagsspaziergang, die Muskeln müssen auch am Ruhetag ein bisschen bewegt werden. Siesta mit Panorama an einem windgeschützten Ort. Wieder lese ich, siehe 5. Stunde. Dante nervt mich ein wenig. An die Reimform habe ich mich mittlerweile gewöhnt. Ständig aber tauchen neue Personen auf und verschwinden wieder so schnell wie sie kamen. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, vermutlich war das im 14. Jahrhundert noch nicht bekannt. Ich verliere den Überblick und beende diese Lesestunde.
24. Stunde: Weitere Wanderer sind noch nicht in Sicht. Seit einem Tag bin ich nun hier. Geniesse die Ruhe, die Sonne, das Panorama und das Hiersein. Höre den Rufen der Murmeltiere zu. Meine Form der Meditation. Irgendwo bimmeln Glocken einer Ziegenherde. Dass es Ziegen sind, hört man am Klang des Bimmelns. Ich sehe sie aber nicht. Ich werde kreativ. Ideen zu neuen Blogbeiträgen kommen mir ebenso wie zu neuen Freebies.
Vielleicht sollte ich noch länger hier oben bleiben?
25. Stunde: Ich sitze in meiner windgeschützten Kuhle. Ruhe. Lese. Ruhe. Gehe zur Hütte zurück, mache einen Schwatz, trinke einen Tee. Gehe wieder in meine Kuhle. Ruhe. Lese. Ruhe. Mache Notizen.
26. Stunde: Doppelte Aufregung. Ein Zeckenbiss im rechten Unterschenkel. Das Tierchen ist so gross, dass ich es problemlos herausdrehen kann. Murmeltiere pfeifen. Dann höre ich Stimmen. Zwei Wanderer kommen. Ein Pärchen. Es wird langsam voll auf meiner Alpe. Ich muss wohl die Ohropax aus dem Rucksack holen.
27. Stunde: Der Hunger meldet sich. Mein Magen knurrt. Durchhalten, weisse ich ihn an. 19 Uhr sind wir eingeladen. Nochmals kurz online. Lesen. Ruhen. Lesen. Notizen machen.
28. Stunde, 18 Uhr: Mir fällt auf, dass ich ständig pfeifende Murmeltiere höre. Gesehen habe ich aber noch keines. Auch sonst keine Tiere. Das ist fast etwas schade. Ich bin allerdings komplett im Faultiermodus und habe keine Lust, noch ein Stück zu wandern. Ich geniesse die Natur in vollen Zügen. Bewundere ihre Schönheit und Unberührtheit.
Es ist Zeit, die morgige Wanderung vorzubereiten. Kartenstudium. Abgleich mit dem Gelände. Ich suche und finde die Scharte, über die es morgen geht. Oder besser: durch die es geht. 68 Zentimeter breit soll sie sein. Früher gingen da Kühe hindurch. Wenn ich also im Durchgang hängenbleibe, dann bin ich dicker als eine Kuh? Ich spinne diesen Gedanken besser nicht weiter.
29./30. Stunde: Dinner mit Fiorenzo und seiner Frau Yvonne. Spaghetti Bolognese und viel Rotwein. Italienisch-deutsches Kauderwelsch. Ich erfahre viel über die Geschichte der Alpe Fiorasca, den SAV Vallemaggia mit seinen Hütten und die Gegend ringsherum.
Ich weiss jetzt, warum ich am Abend nicht heizen konnte: der Ofen war in Kochstellung und nicht im Heizmodus. Aha. Man erzählt mir, dass das aufgeregte Pfeifen der Murmeltiere durch einen Fuchs verursacht wurde, der die jungen Murmeltiere jagt. Ich lerne, dass es 600 CHF im Jahr kostet, zwei Gämsen, zwei Murmeltiere und einen Hirsch zu schiessen. Das sei zu teuer, immerhin gebe es keine Hirsche hier.
Ich frage nach ihrer Meinung zum geplanten Nationalpark und erfahre, nicht mehr überraschend, dass sie dagegen sind. Man will keine Einmischung von der Bundeshauptstadt Bern, sondern selbst weiter entscheiden.
Fiorenzo sprüht mit seinen 72 Jahren nur so vor Lebensfreude, hat noch viele Pläne, den schrittweisen Ausbau der Alpe Fiorasca weiter voranzutreiben. Alles eine Frage des Geldes, sagt er richtigerweise und setzt zu einer inbrünstigen Schimpftirade über die Globalisierung und die EU an.
Nach drei kleinen Bechern Rotwein strecke ich die Waffen, trinke ich doch sonst nur ganz selten überhaupt Alkohol. Ich bedanke mich für die Einladung und die interessanten Gespräche.
31. Stunde: Ein letzter Abendspaziergang. Die Sonne ist längst hinter den Bergen verschwunden. Ein schöner Tag in den Bergen und in der Natur neigt sich dem Ende. Ich mache mir Notizen und erlaube Dante Alighieri, mich in den Schlaf zu reimen.
32. – 40. Stunde: Tiefer und fester Alpschlaf, inmitten der Berge. Inmitten der Natur.
41. Stunde, 7.00 Uhr: Aufwachen, Morgentoilette, Frühstück, Packen und Abmarsch. Irgendwie humorlos nach diesen schönen Stunden hier oben.
Danke Alpe Fiorasca für diese entspannte genussvolle Zeit in meinem Leben!
Erkenntnisse nach 40 Stunden in der unberührten Natur
Ich bin zufrieden. Nein, nicht nur zufrieden. Glücklich. Diese 40 Stunden hier oben auf der Alpe Fiorasca haben mir sehr gut getan. Ich spüre eine grosse innere Ausgeglichenheit und Ruhe.
Sie beweisen mir, dass ich den früheren immergleichen Alltagstrott eines Angestellten hinter mir lassen konnte. Es spielt keine Rolle mehr, welcher Wochentag ist. Es spielt keine Rolle mehr, von wo ich arbeiten kann. Ist das eine Form von persönlicher Freiheit?
Ich brauche auch nicht mehr ständig etwas zu tun, weil Körper und Geist funktionieren wollen oder noch nicht im Wochenende oder im Urlaub angekommen sind, sondern immer weiter arbeiten wollen.
Stattdessen:
Ich kann das Hier und Jetzt geniessen. Auch einfach nur die Berge gegenüber bestaunen, mich an der Natur erfreuen, Wolken beobachten. Gedanken aufschreiben, wenn sie kommen.
Ich atme auf und durch.
Und drücke mir selbst die Daumen, dass es noch lange so weitergehen möge!
Und wünsche mir eine Rückkehr hierher auf die Alpe Fiorasca. Aber länger als 40 Stunden. Vielleicht ein paar Tage. Denn ich habe auch gespürt, dass es Momente gab, in denen ich funktionieren wollte.
Und ich habe bemerkt, wie ungemein kreativ und produktiv ich in der Stille und Schönheit um mich herum geworden bin. Das macht Lust auf eine Wiederholung! Natur inspiriert mich. Die Natur tut mir gut!
Was denkst du: würde dich ein solcher Aufenthalt auch reizen? Erzähle es mir in den Kommentaren!
Hallo Jana,
wir haben den interessanten Beitrag gelesen. Alleine in den Bergen braucht es schon eine große Begeisterung. Die Frauenquote in den Alpenvereinen beträgt ja ca. 40% (lt. Internet), liegt also im Trend.
Unter dem Link der Alpe Fiorasca findet man eins deiner Bilder von der Alpe und den Verweis auf deinen Blog, ist doch ein schöner Erfolg. Kannst Du stolz sein!!
Weiterhin viel Spass in den Bergen und liebe Grüße
Karin & Co.
Hallo Karin & Co.,
ich freue mich, dass der Beitrag Interesse geweckt hat. Alleine unterwegs zu sein in den Bergen sollte man nur, wenn man genügend Wandererfahrung besitzt. Dabei ist es dann egal, ob Frau oder Mann alleine unterwegs ist. Klar ist alleine wandern auch eine Frage der Sicherheit. Es ist aber auch, und das ist wenig bekannt, eine ideale Möglichkeit, abzuschalten von allen äusseren Einflüssen und einfach mal seinen eigenen Gedanken und Plänen nachzuhängen. Für mich ist das auch eine richtige und wichtige Erholung!
Fussige Grüsse, Jana
Hallo Jana,
ein sehr inspirierender Artikel! Es würde mich definitiv reizen, eine Zeit auf einer Alpe zu verbringen und “zu sein”. Man nimmt sich heute viel zu wenig Zeit, mal einfach in seinem eigenen Tempo zu leben.
Viele Grüße
Biene
Hi Biene,
ja, da hast Du sehr Recht. Wir leben alle viel zu oft in einem Tempo, das uns von aussen vorgegeben wird. Ein Aufenthalt auf einer Alpe hilft, sich wieder einmal zu entschleunigen und das eigene Tempo zu leben.
Fussige Grüsse, Jana
Hallo Jana,
dein Bericht von dieser Hütte ist ein Traum. Am liebsten würde ich mich gerade auf der Stelle dorthin beamen 😀 Ich könnte mir sehr gut vorstellen, dort mal einige Zeit zu verbringen – gern auch mehrere Tage. Ich liebe es, wenn ich mal so komplett raus komme und weit weg vom Alltag bin. Somit habe ich Zeit für mich und kann neue Kraft sammeln. Das wirkt sich dann stets natürlich auch positiv auf Motivation und Kreativität aus. Durch solches einfaches Leben wie in der Hütte besinnt man sich gut wieder auf die einfachen Dinge des Lebens. Genießt die Natur in vollen Zügen. Mir macht das immer wieder bewusst, dass man eigentlich nicht viel mehr zum Leben benötigt. Klar ist ein wenig Luxus ab und an mal ganz schön 😉 Doch ich entfliehe liebend gern und verbringe Zeit in der Natur, nur mit Gaskocher, Schlafsack und bestenfalls weit ab von der Zivilisation. Da werde ich mir wohl für irgendwann auch mal diese Hütte merken müssen 😉
Hi Bine,
das freut mich, dass ich mit der Beschreibung meines Aufenthaltes auf der Alpe Fiorasca inspirieren konnte. Ich selbst habe mir auch vorgenommen, noch öfter mal auf unbewirtschafteten Hütten zu verweilen. Ich habe die 40 Stunden auf der Alpe Fiorasca sehr genossen und möchte das gerne wiederholen.
Wenn Du Tipps zu Anreise und Wanderung brauchst, melde Dich gerne.
Fussige Grüsse, Jana