Die Symbiose von Kreativität und Spazierengehen lässt sich historisch gut nachverfolgen. Viele bekannte und berühmte Kreative, seien es Schriftsteller, Komponisten oder Wissenschaftler, waren passionierte Spaziergänger.
Auf jedem Spaziergang gibt es etwas zu beobachten, zu erleben oder zu reflektieren. Jeder Weg, den der Spaziergänger nimmt, hat etwas zu erzählen. Das schafft Raum für innere Ruhe, neue Ideen und Gedankenblitze.
Die Beziehung zwischen Denken und einem Spaziergang – dem Gehen – ist tief in unserer Sprachgeschichte verwurzelt.
In der Sprachgeschichte findet sich ein gemeinsames Wort für Wissen und Fussabdruck
Geht man rückwärts in der Zeit, lässt sich diese Verwandtschaft über das englische Verb “to learn” finden. Auf deutsch heisst “to learn” lernen oder Wissen erwerben. Das altenglische “leornian” übersetzt man heute mit Wissen bekommen. Im noch älteren Protogermanisch findet sich ein im Stamm verwandtes Wort “liznojan”. Das wiederum bedeutet, einer Spur folgen oder eine Spur finden.
“learn” —> “leornian” —> “liznojan”
“lernen” —> “Wissen bekommen” —> “einer Spur folgen”
Lernen bedeutet also ursprünglich, einer Spur zu folgen.
Auch in nichtwestlichen Kulturen findet sich ein ähnliches Bild: im Gedächtnis Spuren hinterlassen.
Die Cibecue-Apachen aus Nordamerika stellen sich die Vergangenheit als einen Pfad vor, auf dem ihre Vorfahren unterwegs waren. Dieser Pfad kann nur mit “Gedächtnisspuren” wieder begangen werden. Solche Spuren nennen die Apachen “biké goz´áá”, was “Fussabdrücke” bedeutet. Für das Volk der Thcho in Nordkanada gibt es gar ein gemeinsames Wort für Wissen und Fussabdruck, eine Etymologie, die sich ähnlich auch in alten tibetischen Texten mit dem Wort “shul” findet.
Das Gehen als ein zweifaches Medium: Bewegung und Begegnung.
Zu Fuss unterwegs zu sein als eine Bewegung für innere oder äussere Begegnungen.
Der Spaziergang als Wegweiser für den Geist.
Ein Wegweiser, den schlaue Wissenschaftler, scharfe Denker, musische Genies und andere besondere Geister gerne nutzen. Nutzen, um nachzudenken. Um zu reflektieren. Um sich auf die Suche nach neuen Ideen zu begeben.
Zu Fuss auf den Spuren der eigenen Kreativität unterwegs zu sein als Fundgrube für Gedankenwege, Geistesblitze oder Denkanstösse.
Ein strikter Tagesablauf als Grundlage für viel Schaffenskraft
Dass man Ideen auch manchmal suchen muss, ist vielen Menschen bekannt, deren Arbeit auf Kreativität beruht. Schriftsteller, Komponisten, Wissenschaftler, Philosophen sind das zum Beispiel.
Im originellen Buch “Musenküsse – Für mein kreatives Pensum gehe ich unter die Dusche” von Mason Currey lässt sich kurzweilig nachlesen, wie sich bekannte Künstler und Wissenschaftler der Vergangenheit auf die Suche nach ihren eigenen Ideen gemacht haben. Das Buch beschreibt ganz hervorragend die fast schon verbohrt wirkenden Tagesabläufe der Meister, auf deren Einhaltung sie strikt und pingelig geachtet haben.
Meist wird sehr früh aufgestanden, dann folgen verschiedene Morgenrituale und ein Frühstück mit exakt gleichen Komponenten. Der Vormittag wird der Arbeit gewidmet. Immer um die gleiche Zeit folgt das Mittagessen mit einer Schaffenspause davor oder danach. Am Nachmittag folgt wieder eine Arbeitsphase, unterbrochen von Kaffeetrinken oder Tea Time und einer kleinen Pause. Nach dem Abendessen wurde nochmals gearbeitet oder Zeit mit Familie und Freunden verbracht.
Und – den ganzen Tag über wurde viel Kaffee getrunken.
Sehr viel Kaffee.
Die Protagonisten wünschten keine Störung oder ungeplante Unterbrechung in ihrem funktionierenden Tagesablauf. Ein Wunsch, den der Partner und die Familie auch zu erfüllen wussten. Was heute pedantisch wirken mag, war die funktionierende Basis für einen hervorragend arbeitenden Geist und neue Werke.
Diese bekannten Persönlichkeiten waren begeisterte Spaziergänger
Beachtenswert ist, dass doch so einige der im Buch vorgestellten Koryphäen jeden Tag Zeit für Spaziergänge einplanten. Sie alle wussten einen regelmässigen Spaziergang zwischendurch zu schätzen.
Was ist das Faszinierende an einem Spaziergang?
Er ist die Wiege für einen nicht versiegenden Einfallsreichtum!
Er schafft wichtigen Abstand zu gerade beendeten Aufgaben und ermöglicht dringend notwendige Bewegung.
Er ermöglicht es, draussen zu sein und Zeit an der frischen Luft zu verbringen.
Spaziergänger sind LangsamMacher. Das bedeutet, dass sie in einer Geschwindigkeit unterwegs sind, die es ermöglicht, die Sinne ausschweifen zu lassen und dabei die vielschichtigen Eindrücke wahrzunehmen, die dem Spaziergänger unterwegs begegnen und auffallen.
Aus diesem Grunde haben viele Kreative einen Notizblock dabei, um die plötzlichen Geistesblitze zeitnah zu notieren.
Welche historischen Persönlichkeiten waren passionierte Spaziergänger?
Als da sind:
Sigmund Freud (österreichischer Psychologe, 1856 – 1939)
Freude macht täglich seinen ersten Spaziergang nach dem Mittagessen. Er war in einem flotten Tempo unterwegs, um sich auch etwas zu fordern. Nach dem Abendessen folgte ein weiterer Spaziergang mit seiner Frau oder seinen Kindern. Sigmund Freud liebte ausserdem die Natur und das Grüne. Seinen jährlichen dreimonatigen Sommerurlaub verbrachte er mit Wandern, Pilze suchen oder Beeren sammeln.
Gustav Mahler (österreichischer Komponist, 1860 – 1911)
Mahler liebte und suchte die Bewegung. Er ging täglich schwimmen. Nach dem Mittagessen nahm er sich ausgiebig Zeit für einen drei- bis vierstündigen Spaziergang. Sobald ihm ein erhaltenswerter Gedanke gekommen war, blieb er stehen, um sich seine Einfälle zu notieren. Er taktierte beim Spaziergang auch mit dem Stift in der Luft, um sich Musik und Rhythmus besser vorstellen zu können.
Ludwig van Beethoven (deutscher Komponist, 1770 – 1827)
Man sagt Beethoven nach, dass er in den Sommermonaten produktiver war. Er machte zwischendurch in seinen Pausen immer wieder Spaziergänge, um frische Luft zu schnappen und seine Kreativität zu steigern. Nach dem Mittagessen begab er sich auf einen langen flotten Spaziergang, der faktisch den gesamten Nachmittag dauerte. Immer dabei: Stift und Notenpapier, falls ihm unterwegs eine musikalische Idee kam.
Pjotr Iljitsch Tschaikowski (russischer Komponist, 1840 – 1893)
Tschaikowski soll ein fanatischer Spaziergänger gewesen sein. Er hielt sich strikt daran, jeden Tag zwei Stunden lang Spaziergänge zu machen, weil er gelesen hatte, dass man so gesund bliebe. Er liebte es, beim Spazierengehen nicht unterbrochen zu werden. Seinen ersten Spaziergang unternahm er nach dem Frühstück für maximal 45 Minuten. Nach dem Mittagessen folge ein zweiter, ausgedehnter Spaziergang. Unterwegs kamen ihm viele Einfälle, so dass er auch immer mit Stift und Zettel unterwegs war.
Charles Darwin (britischer Naturforscher, 1809 – 1882)
Darwin schaffte es, gleich drei Spaziergänge in seinem Tagesablauf unterzubringen. Sowieso schien er die Mussemomente zwischen den Arbeitssitzungen sehr zu schätzen. Entweder ging er spazieren, hielt ein Nickerchen, las oder schrieb Briefe. Den Tag eröffnete Darwin mit einem frühmorgendlichen Spaziergang, danach arbeitete er ab acht Uhr. Nach dem Mittag beendete er seinen Arbeitstag und läutete den freien Nachmittag mit einem langen Spaziergang mit seinem geliebtem Foxterrier Polly ein. Man sagt, Darwin habe beim Spazierengehen den Gehstock rhythmisch im Kies aufgesetzt. Am Nachmittag, um 16 Uhr,folgte ein dritter kürzerer Spaziergang.
Soren Kierkegaard (dänischer Philosoph, 1813 – 1855)
Schreiben und Spazierengehen gehörten für Kierkegaard zusammen. Seine besten Ideen kamen ihm, wenn er als Spaziergänger unterwegs war. Gegen Mittag unternahm er seinen täglichen ausgedehnten Spaziergang durch Kopenhagen. Dabei liess er sich inspirieren von den Begegnungen, Eindrücken und Ereignissen unterwegs. Seine besten Ideen schrieb er noch an Ort und Stelle gleich auf.
Charles Dickens (britischer Schriftsteller, 1812 – 1870)
Auch Dickens folgte seinem strikten Tagesablauf. Punkt 14.00 Uhr machte er sich auf einen drei Stunden dauernden Spaziergang im Grünen oder durch die Strassen Londons. Er grübelte über sein aktuelles Buch oder suchte nach “Bildern, auf denen er aufbauen konnte”. Nach seiner Rückkehr nach Hause war er voller Energie und arbeitete produktiv weiter.
Weitere grosse Spaziergänger lassen sich ebenfalls in der Literatur entdecken:
# Mohandas “Mahatma” Gandhi (indischer Revolutionär und Staatsmann, 1869 – 1948), schreibt in seiner Biographie, dass er schon zu seiner Londoner Zeit gerne zu Fuss unterwegs war, um seine Gedanken zu ordnen und zu reflektieren.
# Hermann Hesse (deutscher Schriftsteller, 1877 – 1962) war in seinem geliebten Tessin regelmässig in den Bergen um seinen Wohnort Montagnola (bei Lugano) unterwegs, um sich in der Stille der Natur neue Ideen zu holen. Die meisten seiner Bücher schrieb er während seiner Tessiner Zeit.
# Gustaf Eisen (schwedischer Naturforscher, 1847 – 1940), ein kauzig wirkender Mensch, der die Natur liebte und später auch Monumentalwerke über Kunstgegenstände schrieb, war oft als Spaziergänger unterwegs. Er liebte es, so seine Gedanken zu sammeln. Im lesenswerten Buch “Der Rosinenkönig” kann man seinen Lebensweg bis hin zur Gründung des Sequoia-Nationalparks mit den riesigen Mammutbäumen lebendig nachverfolgen.
# Jean-Jacques Rousseau (französischsprachiger Philosoph und Pädagoge, 1712 – 1778) behauptete von sich, dass er nur im Gehen denken konnte: “Mein Kopf hält nur mit meinen Füssen Schritt.”
Wann planst du Zeit ein für einen regelmässigen Spaziergang?
Du musst deswegen keine Sinfonien komponieren oder Bücher schreiben oder eingreifenden Erfindungen tätigen.
Doch ein Spaziergänger zu sein, das täte vielen von uns sehr gut.
Der Spaziergang als ein Medium für Bewegung und Begegnung.
Beides gleichermassen wichtig für einen entspannten und glücklichen Alltag.
Das ist so wunderschön beschrieben 🙂
Hi Sabrina
Merci vielmal! Das freut mich sehr!
Fussige liebe Grüsse, Jana
Danke 🙂