Jede Erfahrung, die wir im Leben machen, verändert. Sie prägt. Sie formt. Sie nimmt Einfluss auf die eigene Persönlichkeit, den Charakter, die Werte, die Sicht auf das Leben. Jede Reise, die man unternimmt, entfaltet eine solche Wirkung.
Meine Fernwanderung #bud2esa hat das natürlich auch geschafft.
Mich erreicht die Anfrage von Igor von “7 Kontinente”, der fragt, ob ich bei seinem “Projekt 360: Um die Welt, zu dir selbst” mitmache. Gerne sage ich zu und wähle Ungarn als ein Land, das mich positiv überrascht und meine Gedanken nachhaltig verändert.
Reisen, um zu sich selbst zu finden. Geht das?
Es gibt Menschen, die unternehmen eine (längere) Reise, eine Fernwanderung oder eine Pilgerreise, um zu sich selbst zu finden. Interessanterweise werde ich genau das auf meiner Fernwanderung Budapest – Eisenach oft gefragt: “Machst du das, um dich selbst zu finden?”
Wäre das als geschlossene Frage gemeint, wäre meine Antwort “nein”. Eine solche Frage lässt sich jedoch nicht mit “Ja” oder “nein” ausreichend gut beantworten.
Also gebe ich zurück: “Ja und Nein”.
Warum?
Ich glaube nicht daran, dass man eine solche Unternehmung, eine längere Reise durch fremde Kulturen oder eine Fernwanderung, bewältigen kann, wenn man sich nicht schon (zumindest mehrheitlich) gefunden hat. Wer sich für ein solches Projekt entscheidet, sucht bewusst Veränderung.
Reisen oder Fernwandern kann man nicht en passant.
Das sind Aufgaben für sich, die Zeit, Fokus, offene Sinne und Energie benötigen. Wenn man sich nebenbei selbst finden möchte, halte ich das für nicht machbar. Eines von beiden käme mit Sicherheit zu kurz.
Eine Reise oder Fernwanderung ist auf der anderen Seite eine Reise durch Kultur- und Landschaftsräume, durch Natur und Länder, zu Menschen und mit unzähligen zufälligen Begegnungen. Und es ist auch eine Reise durch die eigene Gedankenwelt.
Das Kopfkino ist im Dauereinsatz. Gerade beim Fernwandern hat man unendlich viel Zeit, nachzudenken. Abstand zu gewinnen. Zu bemerken, worüber man eigentlich den lieben langen Tag so nachdenkt. Und wie sich diese Gedanken im Laufe der Zeit – oder wohl eher mit den bewältigten Kilometern – verändern.
Man lernt sich besser kennen.
Merkt, was wichtig ist. Was man vermisst. Oder was nur eine Begleiterscheinung war, um unangenehmen Alltag bewältigen zu können. Man wird kreativ. Schmiedet Pläne. Wird inspiriert. Lässt manches los, möchte anderes gerne festhalten.
Man kommt mehr bei sich selbst an.
Man nimmt sich Zeit für sich selbst, seine Wünsche und Bedürfnisse, die im Alltag zu oft zu kurz kommen.
Man kann sich auf einer solchen Reise auch neu erfinden.
Oder ist es einfach Sinnsuche? Vermutlich …
Das geht aber alles nur, wenn man sich selbst gut kennt. Und es auch lange genug mit sich aushält.
Ungarn – eine Zeit voller Überraschungen und Einsichten
Während der Vorbereitung zu meiner Fernwanderung stelle ich mir die fünf Länder, durch die ich wandern werde, vor meinem geistigen Auge vor. Ungarn, die Slowakei, Tschechische Republik, Polen und Deutschland.
Ungarn ist für mich dabei die grösste terra incognita. Ich stelle mir vor, wie ich weglos und ohne ausreichende Markierung in einem Land mit einer mir völlig fremden Sprache versuche, meinen Weg zu finden.
Rund 2700 Kilometer und viereinhalb Monate später schaue ich zurück und lächele, fasziniert und angetan, beim Gedanken an jene 35 Tage im Land der Magyaren. Zu Fuss erkunde ich den Nordosten des Landes. Ich gehe nach dem Start in Budapest fast nur über Land und durch Dörfer gehe und lerne so nur noch zwei Kleinstädte kennen. Das ermöglicht mir einen intensiven Einblick in das Leben im ländlichen Ungarn.
Es war der schönste und beste Abschnitt auf dem Weg zwischen Budapest und Eisenach.
# Ich habe ein Wanderparadies par excellence gefunden. Perfekt markiert, wunderbare naturnahe Wanderwege, hervorragend beschildert und eine Infrastruktur an Unterkünften und Versorgung, die ihresgleichen sucht. Es geht kaum besser.
# Ich habe mich in die ungarischen Dörfer verliebt. Der geschlossene und kompakte Ortskern, die bunten und liebevoll gepflegten Bauern- und Laubenganghäuser und das friedliche Zusammenleben der Dorfbewohner gefallen mir in jedem Dorf aufs Neue. Ich werde oft einfach und gleichzeitig verwundert angesprochen und im ungarisch-deutsch-russisch-englischen Kauderwelsch verständigen wir uns. Fernwanderer sieht man hier nur ganz selten.
# Die freundlichen Gastgeber, bei denen ich einkehre oder übernachte, machen diese Tage ebenso besonders wertvoll. Mir wird bei der Unterkunftssuche geholfen und ich lande einige Male am Küchentisch meiner Gastgeber und werde auf einen Schnaps – das Wort scheint international zu sein – eingeladen. Überraschend häufig kann ich mich dabei auf deutsch unterhalten, sprechen doch viele Ungarn älterer Generation noch immer fliessend deutsch.
# Landschaftlich hat mir Ungarn ebenfalls ausnehmend gut gefallen. Der Wanderweg ist so naturnah angelegt, dass ich zwischen den einzelnen Dörfern immer in einem grünen Tunnel im Wald verschwinde oder über Wiesen und Felder wandere. Schmerzhafte Asphaltpassagen gibt es kaum. Die Mittelgebirge, die ich auf meinem Weg täglich begehe, haben alle einen eigenen Charakter. Ich entdecke einige Plätze, an die ich gerne einmal zurückkehren möchte.
Ich bin rundum glücklich und entspannt. Der angeblich so schwierige Beginn meines Fernwanderweges entpuppt sich als perfekter Einstand. Ich gewinne schnell an Sicherheit und Vertrauen. Gehe wie selbstverständlich und auf Schienen durch das Land. Verspüre keine Angst. Fühle mich rundum wohl.
Das erlaubt es mir, mich intensiv meinen Gedanken unterwegs zu widmen.
Ich spüre, wie sich etwas in mir verändert. Ich gewinne an Leichtigkeit und Lebenslust. Anfangs denke ich noch sehr viel an mein Alltagsleben in meiner Wahlheimat Zürich und mein Wanderwohnzimmer im Tessin.
Doch ich schaffe es, loszulassen.
Mir wird klar, was mich auf diesen Weg geführt hat – neben der Tatsache, dass ein Fernwanderweg schon seit vielen Jahren auf meiner Löffelliste steht. Als ich mir das eingestehe, kenne ich plötzlich auch die zwei Hebel, an denen ich für eine Veränderung im zukünftigen Alltag ansetzen muss.
Ich bemerke, wie mich das befreit.
Als mich meine Begeisterung über Ungarn als Wanderland und meine interessanten Erfahrungen teile, finde ich Gleichgesinnte. Ich spüre aber auch regelmässig Vorbehalte. Vorbehalte, die auf die politische Situation im Land zurückzuführen sind. Oder eher darauf, wie darüber in unseren Medien berichtet wird. Das ist schade. Denn eine Reise oder Fernwanderung in einem Land zu machen, heisst ja nicht, das politische System zu unterstützen. Es heisst auch nicht, blauäugig durchs Land zu gehen.
Es heisst, sich eine eigene Meinung zu bilden und mit offenen Sinnen einem neuen Land und seine Menschen zu begegnen. Und vielleicht nicht immer alles zu glauben, was man so liest und hört.
Ich habe in Ungarn neue Freunde gefunden. Menschen, mit denen ich mich auch über Kritisches offen unterhalten durfte. Die mir einen Einblick in ihren Alltag gegeben haben. Und die mir offen und herzlich begegnet sind. Ausschliesslich.
Ungarn hat viel für mich verändert.
Ich bin offener geworden. Verspüre immer mehr Lust, auf fremde Menschen zuzugehen. Sie auch um Hilfe zu bitten, wenn nötig. Und mich auch darauf zu verlassen, dass es schon gut ausgehen wird. Auch wenn ich aufgrund sprachlicher Barrieren nicht gleich verstehe, was genau passieren wird.
Und Ungarn hat mir die innere Ruhe und Sicherheit gegeben für mein Unternehmen Fernwanderweg. Für die restlichen rund 100 Tage, die da noch vor mir lagen.
Ich weiss nicht, ob meine Fernwanderung anders verlaufen wäre, hätte ich mich nicht von Anfang dank Ungarn so wohlgefühlt. Das werde ich wohl niemals erfahren. Was ich weiss ist, dass ich in Ungarn einen Schubs bekommen habe, Dinge inskünftig anders anzugehen und zu machen.
Und dass ich diesen Schubs noch heute spüre … und ihn immer noch richtig gut finde.
Ungarn hat mich für die Tür zu einem anderen Leben aufgestossen. Seit diesen Tagen in Ungarn verspüre ich eine stärkere Lebendigkeit in meinem Inneren. Das fühlt sich gut an.
Es ist wohltuend.
Köszönöm, Magyarország! Danke, Ungarn!
Welche Reise oder welches Land hat dich besonders geprägt? Warum? Lass es uns gerne in den Kommentaren wissen!
Oh, Jana, schön, dass Du das Selbstfindungs-Thema ansprichst 😉
Ich habe mich, ehrlich gesagt, schon gefragt, was bei dieser Tour in Deinem Innern abgegangen ist.
Bekanntlich kommt man ja nach jeder Reise zumindest ETWAS verändert zurück.
Ich selbst entdecke bei jeder größeren Wanderung neue Seiten an mir – oder werde daran erinnert, dass ich auch noch andere Seiten habe. Diese Erkenntnisse sind manchmal lustig, aber nicht immer 😉
Am meisten geprägt haben mich meine Aufenthalte in Island und Lappland, wo ich jeweils für mehrere Monate war und unter anderem als Workawayer gearbeitet habe. Gerade beim Arbeiten wurde mir oft klar, wie sehr ich an meinen Gewohnheiten klebe – und dass es immer auch andere Wege gibt, als nur den meinen.
Ich wünschte, dass einfach mehr Leute solche Erfahrungen machen könnten. Unser Zusammenleben hier in Deutschland würde sich dann definitv entspannter gestalten …
Hi Judith,
ich glaube, dass es die innere und äussere Stille sowie der Abstand von der Reizüberflutung im Alltag, die uns das Gefühl geben, beim (Fern-)Wandern zu entspannen, Abstand zu gewinnen, kreativ zu werden oder die Dinge aus anderen Blickwinkeln zu betrachten. Umso länger man wandern darf, umso intensiver sind diese Erkenntnisse. Und umso tiefgreifender für das Zukünftige.
Das Wichtige ist der Schritt heraus aus dem immer gleichen Alltagstrott. Ich glaube, dass wäre für sehr viele Menschen eine Chance. Denn nur dann hat man überhaupt die Gelegenheit, mal mit Abstand auf bestimmte Dinge zu schauen. Zu reflektieren. Nachzudenken. Für das Zusammenleben in Deutschland und wahrscheinlich auch anderen Ländern im westlichen Europa würde das Wunder wirken, da bin ich bei Dir.
Nur viele sind dazu auch zu bequem. Wir zum Glück nicht :-)!
Ein fussiger lieber Gruss, Jana
Das sind wunderschöne Sätze über Ungarn, die ich allesamt nur fett unterstreichen kann.
Hi Bert,
danke, das freut mich sehr, einen Gleichgesinnten da draussen zu wissen, der Ungarns Schönheit ebenso sieht und schätzt!
Ein lieber fussiger Gruss, Jana