Es war einmal ein Wanderfreund. Jedes Jahr wieder, wenn der Winter schon fast gegangen war und der Frühling vorsichtig seine ersten zarten Fühler ausstreckte, wartete er sehnsüchtig. Begierig harrte er aus und wartete. Auf eine Nachricht. Jeden Tag. Den Posteingang täglich überprüfend, hielt er Ausschau nach dieser einen Mitteilung.
Die Tage vergingen. Der Winter verabschiedete sich. Die Schneeschuh- und Winterwanderausrüstung wurde sorgfältig verstaut. Frühlingsjacke, Wanderstöcke und Wanderrucksack werden parat gemacht. In Zürich lichtet sich allmählich die allmorgendliche winterliche Dunstglocke. Die Temperaturen werden langsam wärmer.
Endlich war sie da. Die Nachricht.
Ein Lächeln umspielte seinen Mund. Sein Wanderherz hüpfte vor Freude. Der Kalender wurde geholt, der nächste mögliche freie Termin gesucht. Der Wetterbericht abgerufen, zwei Tage Frühling und warme Sonnenstrahlen suchend. Ein Abgleich mit dem Kalender gemacht. Hurra! Vor Freude hüpfen wurde zur grossen Vorfreude.
Dieser Wandersfreund bin ich.
Meine Tradition: Die erste warme Frühlingssonne im Tessin geniessen …
Mit der so inständig erwarteten Nachricht schultere ich meinen Rucksack und fahre los. Drei schnell vergehende Stunden Zugfahrt von Zürich später stehe ich in Locarno, am wunderbar gelegenen und im Sonnenlicht glitzernden Lago Maggiore. Schon diese beiden Namen allein klingen nach Sonne und sind Musik in meinen Ohren.
Das Tessin. Die italienische Schweiz. Auf der Südseite der Alpen. Aus dem Norden kommend fängt sie direkt hinter dem vielbefahrenen und berühmt-berüchtigten Gotthard an. Dabei ist es egal, ob man den Passübergang oder den Autobahntunnel meint.
Doch schon bald bleibt der Verkehr mit seinem Lärm zurück. Der Gotthard bleibt dann eher in positiver Erinnerung. Als Wetterscheide. Wenn es im Norden noch kalt, wolkig und windig ist, ist es im Süden bereits frühlingshaft warm. Die Sonne besitzt schon eine wohlig warme Kraft, an die Stelle der vielen Wolken tritt azurblauer Himmel.
Man muss kein Wanderfreund sein, um sich danach zu sehnen.
Meine liebliche Perle der Schweiz, das Tessin, empfängt mich zum ersten Mal im neuen Jahr.
Es ist März. In Locarno deutet nichts mehr auf die kalten Tage im Norden hin. Die Menschen sitzen bereits in den Strassencafés, lecken Eis und geniessen die Sonne. Es sind ungefähr 18 Grad, in der Sonne fühlt es sich noch wärmer an. Es weht kaum ein Wind.
Es ist ein herrlicher Moment, wenn die ersten warmen Sonnenstrahlen des Jahres den eigenen Körper umspielen. Frühlingserwachen für Mensch und Natur.
Natur, Temperatur und Frühling sind hier schon weit vorangeschritten, die Kraft des Winters ist gebrochen.
Alles riecht und schmeckt nach Frühling. Vergessen sind die kalten Temperaturen, der kühle Wind, das nasskalte Wetter.
La dolce vita in der Schweiz.
Bald findet die “Camelie” statt. Perfekt passend, denn hier stehen die namensgebenden Kamelien bereits in voller Blüte. Ein Fest zu Ehren dieser eleganten und intensiv blühenden Pflanzen. Ganz Locarno steht im Zeichen der Kamelie. Die Busse im öffentlichen Verkehr, viele Geschäfte und Plakate werben dafür. Ich tauche ein in diese volle Blütenpracht und spaziere von der alten Schlossruine zum Kamelien-Park am Ufer des Lago Maggiore.
Beeindruckt von den farbenfrohen Blüten der Kamelien entdecke ich beim Flanieren durch Locarnos bezaubernde Altstadt sowie an der Uferpromenade am Lago Maggiore grazil und edel wirkende Magnolien, die mich fast noch mehr verzaubern als die nicht minder schönen Kamelien. Magnolien bannen meinen Blick jedes Mal wieder so als sei immer noch das erste Mal. Ich kann mich gar nicht satt sehen und geniesse den Moment in vollen Zügen.
Ich liebe es einfach, den Frühling im Tessin willkommen zu heissen!
Um sich all diese Wonne unter der wärmenden Frühlingssonne zu gönnen, hätte es die lang ersehnte Nachricht aber natürlich nicht gebraucht. Was steht denn nun drin, auf das ich so sehnsüchtig gewartet habe?
… und die erste Wanderung im Jahr auf den Monte Comino machen
Später schnüre ich die Wanderstiefel. Mit der bekannten Centovalli-Bahn, die kühn das Centovalli, dem Namen nach das Tal der hundert Täler, zwischen Locarno und Domodossola (Italien) durchquert, fahre ich nach Intragna. Intragna, das ist ein kleines Tessiner Dorf, das grösste dennoch im Centovalli, bekannt für seinen hohen Kirchturm. Den höchsten im gesamten Tessin.
Das Dorf durchschreitend steige ich nun drei kurzweilige Wanderstunden, anfangs steiler, später flacher werdend, hinauf. Erreiche die abgelegenen klitzekleinen Tessiner Bergdörfer Pila, Cremaso und Calascio. Keine Strasse führt hier hinauf, nur zu Fuss erreicht man diese ruhigen Flecken Erde.
Ich wandere über herrlich angelegte Saumpfade, die sich sanft an den Berg schmiegen. Diese waren in früheren Zeiten oft Handelswege. Je höher ich komme, desto karger wird das neue Grün. Es ist noch früh im Jahr, die Berge sind noch immer schneebedeckt. An den Bäumen beginnt es zu spriessen, aber sie sind noch unbelaubt. Das lässt den Blick in die Ferne schweifen. Von der Sonne begleitet unter blauem Himmel erfreue ich mich immer wieder am Blick zurück in Richtung Locarno und Lago Maggiore. In den Dörfern ruht das Leben noch. Es dauert noch ein paar wenige Wochen, bis Landwirte und Sommergäste wieder auf den dann sattgrünen Bergwiesen zu finden sind.
Eine liebgewonnene Tradition will es, dass jedes Jahr die erste Wandertour mit Übernachtung hier hinauf führt, bis zur kleinen Hochebene auf den Monte Comino. Schon früh im Wanderjahr ist der Schnee geschmolzen, der Südlage sei dank. Ideal geeignet, um im aufkommenden Frühling loszugehen.
Knapp 1200 Meter hoch liegt der Monte Comino. Tief genug, um sich immer noch an der warmen Sonne zu laben. Hoch genug für eine kleine Seilbahn für die, die sich den grossen Aufstieg sparen wollen. Dort, auf dem Monte Comino, steht eine liebevoll geführte Bergwirtschaft, die Alla Capanna. Als ich ankomme, freue ich mich, Brigitte und Edy, die herzlichen Gastgeber, wieder zu begrüssen.
Ihre Nachricht ist es, auf die ich gewartet habe und über die ich mich so gefreut habe. Die Mitteilung, dass die Alla Capanna nun geöffnet hat und ihre vielen treuen Wandergäste und Tagesausflügler wieder empfangen kann.
Ich möchte über Nacht bleiben. Die Ruhe geniessen, die Natur erleben, interessante Gespräche mit den Gastgebern und den anderen Gästen führen, ein Buch lesen oder schreiben.
Auf der Terrasse an typischen Granittischen sitzend, geniesse ich das weite Panorama über die noch schneebedeckten Gipfel, das erste satte Grün der Berg- und die erste bunte Vielfalt der Blumenwiesen sowie den herrlichen Frühlingstag, der sich nun langsam dem Ende neigt.
Am Abend kredenzen Brigitte und Edy ihr im ganzen Tal berühmtes Steinpilzrisotto. Dazu trinke ich weissen Merlot aus dem Tessin, am liebsten direkt aus einem Boccalino, einem kleinen Weinkrug, bemalt in rot und blau, den Farben des Tessins.
Das ist alles, was das Wanderherz begehrt. Mehr braucht es nicht nach einem Wandertag.
Im November, nach einer langen Saison, schliesst die Alla Capanna wieder ihre Pforten und verabschiedet sich von seinen treuen Gästen mit einem letzten Gruss.
Dann beginnt das lange Warten wieder bis zum März, bis die freudige Nachricht kommt, dass die Wandersaison nun wieder mit seiner liebgewonnenen Tradition begonnen werden kann. Unter der warmen Sonne des Tessins, begleitet von farbenrohen Kamelien und Magnolien, nach einer feinen Wanderung, abgerundet mit den Köstlichkeiten der Tessiner Küche.
Und wenn er nicht gestorben ist, dann wartet er abermals, der Wandersfreund. Denn das Warten lohnt sich, jedes Jahr wieder.
Diese und noch 11 weitere Wanderungen findest du ausführlich beschrieben in meinem eBook “Tälerhüpfen im Tessin”.
Organisatorisches
Jedes Jahr wieder ist dies ein wundervoller gelungener Start in meine Wandersaison. Zur Nachahmung unbedingt empohlen! Wer am nächsten Tag noch weiterwandern möchte, dem bieten sich vom Monte Comino aus viele Möglichkeiten: kleine und grosse Gipfel, direkter oder längerer Abstieg oder auf den alten Saumpfaden bis hin zur italienischen Grenze.
Anreise mit der SBB (Schweizerische Bundesbahn) und Centovalli-Bahn
Tourismus im Tessin: Tessin und Locarno
Schreibe mir gerne, wenn du Hilfe brauchst, um diese herrliche Tour auf den Monte Comino zu planen!
Das klingt toll – vielen Dank dafür liebe Jana!
Danke Bianka, freut mich, dass Dir der Bericht gefallen hat. Es ist auch einfach schön in Locarno und Umgebung, das muss man gesehen haben.