In der richtigen Geschwindigkeit leben?
Was heisst das? Worum geht es?
Schaue dir für den Anfang das folgende Video an. Es dauert nicht lang. Keine fünf Minuten, doch wohl investierte Zeit.
Was denkst du, nachdem du das Video gesehen hast?
Welche Gedanken oder Fragen sind dir durch den Kopf gegangen?
Hast du dich im Film wiedergefunden?
Hast du gedacht: Oh je, wie eintönig und öde ist das denn? Oder: Mir geht das nicht so? Oder: Stimmt, eine gewisse Parallele zu meinem Alltag ist durchaus vorhanden?
Vom Glück und dem Können, die richtige Geschwindigkeit für das eigene Leben zu finden
In der richtigen Geschwindigkeit leben, dafür gibt es kein Richtig oder Falsch.
In der richtigen Geschwindigkeit leben ist einzig und allein eine subjektive und individuelle Fragestellung.
Dieser Beitrag, den du gerade liest, möchte genau das erreichen: Dass du fragst, reflektierst, feststellst, ob du in der richtigen Lebensgeschwindigkeit unterwegs bist.
Dir geht es zu langsam: Du möchtest vielleicht noch einen Gang hochschalten, weil es dir nicht schnell genug geht? Du hast noch Zeit, Kraft und Energie, um deine täglichen 24 Stunden intensiver zu gestalten?
Alles ist bestens: Dein Alltag passt so für dich, wie er jetzt ist? Du bist zufrieden (auch glücklich?) und die kleinen Ärgernisse des Alltags lassen sich problemlos meistern?
Dir geht es zu schnell: Die tägliche Hektik zwischen Familie, Beruf, Freunden und Freizeit lässt kaum Raum zum Verschnaufen? Möchtest du gerne mal langsamer machen können?
Um dich richtig einzuschätzen oder einzuordnen, kannst du dir, zum Beispiel, die folgenden Fragen stellen:
1. Was möchte ich noch lernen? Wie möchte ich mich weiterentwickeln? Welche Fähigkeit oder Kenntnisse möchte ich noch entwickeln? Und wann?
2. Gibt es Bereiche in meinem Leben, die eine Auffrischung oder mehr Konzentration brauchen? Gesundheit, Familie, Freunde, Freizeit, Achtsamkeit, Arbeit, Kreativität, Wünsche?
3. Worauf möchte ich mich kurz-, mittel- oder langfristig konzentrieren? Kann ich das auch auf 3-5 Dinge eingrenzen, wenn ich die für mich wichtigsten Themen angehen möchte?
4. Stelle dir vor, jetzt wäre es 1 Jahr später. Was würdest du rückblickend gerne erreicht, erlebt, erfahren haben? Welche Veränderungen sollen für dich und dein Leben eingetragen sein?
Als Anregung empfehle ich dir folgende Kurzgeschichte von Heinrich Böll (1917-1985), die er für eine Sendung des Norddeutschen Rundfunks zum „Tag der Arbeit“ am 1. Mai 1963 geschrieben hat.
Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral
In einem Hafen an einer westlichen Küste Europas liegt ein ärmlich gekleideter Mann in seinem Fischerboot und döst. Ein schick angezogener Tourist legt eben einen neuen Farbfilm in seinen Fotoapparat, um das idyllische Bild zu fotografieren: blauer Himmel, grüne See mit friedlichen, schneeweissen Wellenkämmen, schwarzes Boot, rote Fischermütze. Klick. Noch einmal: klick, und da aller guten Dinge drei sind und sicher sicher ist, ein drittes Mal: klick. Das spröde, fast feindselige Geräusch weckt den dösenden Fischer, der sich schläfrig aufrichtet, schläfrig nach seiner Zigarettenschachtel angelt. Aber bevor er das Gesuchte gefunden, hat ihm der eifrige Tourist schon eine Schachtel vor die Nase gehalten, ihm die Zigarette nicht gerade in den Mund gesteckt, aber in die Hand gelegt, und ein viertes Klick, das des Feuerzeuges, schliesst die eilfertige Höflichkeit ab.
Durch jenes kaum messbare, nie nachweisbare zuviel an flinker Höflichkeit ist eine gereizte Verlegenheit entstanden, die der Tourist – der Landessprache mächtig – durch ein Gespräch zu überbrücken versucht. “Sie werden heute einen guten Fang machen.” Kopfschütteln des Fischers. “Aber man hat mir gesagt, dass das Wetter günstig ist.” Kopfnicken des Fischers. “Sie werden also nicht ausfahren?” Kopfschütteln des Fischers, steigende Nervosität des Touristen. Gewiss liegt ihm das Wohl des ärmlich gekleideten Menschen am Herzen, nagt an ihm die Trauer über die verpasste Gelegenheit. “Oh? Sie fühlen sich nicht wohl?” Endlich geht der Fischer von der Zeichensprache zum wahrhaft gesprochenen Wort über. “Ich fühle mich grossartig”, sagt er. “Ich habe mich nie besser gefühlt.” Er steht auf, reckt sich, als wollte er demonstrieren, wie athletisch er gebaut ist. “Ich fühle mich phantastisch.”
Der Gesichtsausdruck des Touristen wird immer unglücklicher, er kann die Frage nicht mehr unterdrücken, die ihm sozusagen das Herz zu sprengen droht: “Aber warum fahren Sie dann nicht aus?” Die Antwort kommt prompt und knapp. “Weil ich heute morgen schon ausgefahren bin.” “War der Fang gut?” “Er war so gut, dass ich nicht noch einmal ausfahren brauche, ich habe vier Hummer in meinen Körben gehabt, fast zwei Dutzend Makrelen gefangen.” Der Fischer, endlich erwacht, taut jetzt auf und klopft dem Touristen auf die Schulter. Dessen besorgter Gesichtsausdruck erscheint ihm als ein Ausdruck zwar unangebrachter, doch rührender Kümmernis. “Ich habe sogar für morgen und übermorgen genug!” sagte er, um des Fremden Seele zu erleichtern. […]
“Ich will mich ja nicht in Ihre persönlichen Angelegenheiten mischen”, sagt er, “aber stellen Sie sich mal vor, Sie führen heute ein zweites, ein drittes, vielleicht sogar ein viertes Mal aus, und Sie würden drei, vier, fünf, vielleicht sogar zehn Dutzend Makrelen fangen. tellen Sie sich das mal vor!” Der Fischer nickt. “Sie würden”, fährt der Tourist fort, “nicht nur heute, sondern morgen, übermorgen, ja, an jedem günstigen Tag zwei-, dreimal, vielleicht viermal ausfahren – wissen Sie, was geschehen würde?” Der Fischer schüttelt den Kopf. “Sie würden sich in spätestens einem Jahr einen Motor kaufen können, in zwei Jahren ein zweites Boot, in drei oder vier Jahren könnten Sie vielleicht einen kleinen Kutter haben, mit zwei Booten oder dem Kutter würden Sie natürlich viel mehr fangen – eines Tages würden Sie zwei Kutter haben, Sie würden…”, die Begeisterung verschlägt ihm für ein paar Augenblicke die Stimme, “Sie würden ein kleines Kühlhaus bauen, vielleicht eine Räucherei, später eine Marinadenfabrik, mit einem eigenen Hubschrauber rundfliegen, die Fischschwärme ausmachen und Ihren Kuttern per Funk Anweisung geben, sie könnten die Lachsrechte erwerben, ein Fischrestaurant eröffnen, den Hummer ohne Zwischenhändler direkt nach Paris exportieren – und dann…” – wieder verschlägt die Begeisterung dem Fremden die Sprache.
Kopfschüttelnd, im tiefsten Herzen betrübt, seiner Urlaubsfreude schon fast verlustig, blickt er auf die friedlich hereinrollende Flut, in der die ungefangenen Fische munter springen. “Und dann”, sagt er, aber wieder verschlägt ihm die Erregung die Sprache. Der Fischer klopft ihm auf den Rücken wie einem Kind, das sich verschluckt hat. “Was dann?” fragt er leise. “Dann”, sagt der Fremde mit stiller Begeisterung, “dann könnten Sie beruhigt hier im Hafen sitzen, in der Sonne dösen – und auf das herrliche Meer blicken.”
“Aber das tu ich ja schon jetzt”, sagt der Fischer, “ich sitze beruhigt am Hafen und döse, nur Ihr Klicken hat mich dabei gestört.” […]
Quelle: Böll, Heinrich, Werke: Band Romane und Erzählungen 4. 1961-1970. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1994, S. 267-269
Viele Menschen, auch ich, neigen beim Lesen dieser Anekdote dazu, offen oder insgeheim dem Fischer zuzustimmen. Wer träumt nicht davon, ein derart genügsames und stressfreies Leben zu führen? Doch auch der strebsame Tourist bringt eine eigene Perspektive ein, die Menschen richtig und nacheifernswert finden.
Und das ist gut so … Es lohnt, über beide Lebensweisen nachzudenken.
In der richtigen Geschwindigkeit zu leben, ist etwas, das man für sich selbst finden – und konsequenterweise auch leben – muss. Das ist auch eine Frage der Selbstbestimmung.
Diese richtige Geschwindigkeit darf andere Menschen, denen sie nicht taugt, die jedoch von ihr beeinflusst werden, dabei nicht negativ beeinträchtigen. Das ist nicht einfach und wird umso schwerer, wenn man an die Gesellschaft als Ganzes denkt. Zum Beispiel in Umwelthemen, bei Fragen der sozialen Gerechtigkeit oder wenn es um medizinischen oder technologischen Fortschritt geht.
Die richtige Geschwindigkeit für sich zu finden, kann auch bedeuten, Abstriche zu machen oder sich von langjährigen Gewohnheiten zu trennen. Wer weniger arbeiten will, wird auch weniger Geld verdienen und muss sich somit materiell einschränken.
Es ist nicht einfach, Veränderungen in Gang zu bringen. Das ist ein langer Prozess, der Geduld und Beharrlichkeit erfordert. Er beginnt damit, infragezustellen. Nachzudenken. Dann festzustellen. Ändern zu wollen oder beizubehalten. Und gegebenenfalls zu verändern.
Wenn du es schaffst, dir nach der Lektüre dieses Beitrags Zeit zu nehmen, um das Gespräch zu suchen, dann ist mir der Artikel gelungen.
So ein Gespräch kannst du mit deinen Freunden oder deiner Familie suchen. Oder auch, wenn du allein bist! An einem ruhigen Ort. Wo du die notwendige Stille findest, um den vielschichtigen Einflüssen von aussen zu entfliehen und sich ganz deinem eigenen Inneren und deinen Gedanken zuwenden kannst.
Dann wirst du bemerken, ob die Geschwindigkeit, in der täglich lebst, die richtige ist.
Das Glück der Langsamkeit
Ich habe nach etwas mehr als einem Drittel meiner Berufsjahre für mich entschieden, etwas langsamer zu machen. Mir mehr Zeit zu nehmen für Familie, Freunde, Passionen und Projekte, die mir am Herzen liegen.
Warum soll ich mich von Tag zu Tag hetzen lassen, wo doch jeder Tag neben der Gesundheit das Wertvollste bietet, was wir besitzen: Zeit. Zu schnell verliert sich das Wesentliche zwischen all den Dingen, die keine nachhaltige Bedeutung haben und nur im ersten Moment wichtig erscheinen.
Es lohnt, darüber nachzudenken. Anstelle von Speeddating und Multitasking oder schneller, höher, weiter einfach regelmässig eine Runde Müssiggang.
Warum auch nicht?
Langsamkeit heisst nicht Stillstand.
Langsamkeit heisst auf jeden Fall auch, in Bewegung zu bleiben.
In Bewegung bleiben nach aussen und nach innen ….
So wird die Wiederentdeckung der Langsamkeit auch zum Bewusstsein, in der eigenen richtigen Geschwindigkeit zu leben.
Beitragsbild von Andrew Kambel auf Unsplash