Es war fast Vollmond. Ob fast oder ganz spielte aber eigentlich keine wesentliche Rolle, denn dicke Regenwolken liessen keinen direkten Blick auf den Mond zu. Dennoch war die Atmosphäre, abends im Wald, vom Licht des durch die Wolken schimmernden fast-Vollmondes geprägt. Die Stimmung war mystisch und hatte etwas Friedliches.
Die Wettervorhersage und der erwartete (und teilweise eingetretene) viele Regen waren fast ein Showstopper. Als ich am letzten Samstag Nachmittag das Haus verliess, regnete es in Strömen. Der wirklich dumme Spruch “Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung.” kam mir in den Sinn. Ich ärgerte mich kurz darüber, dass mir ausgerechnet diese Binsenweisheit durch den Kopf schoss – und schob sie dann ziemlich fix beiseite.
Die Möglichkeit des Zuhausebleibens zog ich nicht in Betracht. Trotz des vielen Regens, der mich schon auf vielen Wanderungen zuletzt begleitet hatte. Das besondere Erlebnis, der Charme, einer Wanderung im Regen erschliesst sich jedenfalls erst, wenn man es tatsächlich wagt.
Acht Jahre schon lebe ich in der schönen Schweiz. Bin dabei viel gewandert. Die Berge rauf und wieder runter, manchmal auch in flacheren Gefilden. Eines entdeckte ich aber erst in der letzten Woche. Dank eines Newsletters der Schweizer Wanderwege, dem Dachverband der Schweizer Wanderweg-Organisationen.
Es gibt eine Schweizer Wandernacht!
Und ich wollte unbedingt dabei sein an diesem 18. Juni 2016.
Die Schweizer Wandernacht 2016
Schon zum 11. Mal organisieren die Schweizer Wanderwege die Schweizer Wandernacht. Jetzt hatte ich zum ersten Mal davon gehört. Neugierig wie ich bin, wollte ich auch gleich diese Chance beim Schopfe packen und teilnehmen.
Die Schweizer Wandernacht findet immer im Frühsommer statt, idealerweise an einem Wochenende mit Vollmond. Regional werden Veranstaltungen ganz unterschiedlicher Art organisiert und angeboten. Für die Kleinen und die Grossen. Mit Vierbeinern oder ohne. Das Angebot reicht von einfachen Mondscheinwanderungen über Wildbeobachtungen bis hin zu Gipfelbesteigungen im Morgengrauen.
So fühlte ich mich doch auch ein kleines bisschen überwältigt, als ich eine Auswahl von 64 Veranstaltungen entdeckte. Schnell jedoch fiel die Entscheidung zugunsten einer Zürcher Wanderung.
Zürich hat, man staune, eine kleine Wildnis direkt neben den Toren der Stadt. “Raus aus der Stadt. Rein in die Wildnis.” heisst das passende Motto des ersten anerkannten Naturerlebnisparks der Schweiz, dem Sihlwald.
Dorthin nun führte mich meine erste Schweizer Wandernacht. In einen vormals stark genutzten Wald, der sich jetzt, vor allem in seiner Kernzone, zurückverwandeln darf in einen natürlichen Wald. In einen sogenannten Naturwald.
Das besondere Erlebnis, der Charme, einer Wanderung im Regen erschliesst sich jedenfalls erst, wenn man es tatsächlich wagt. Click To TweetWandern in der Nacht
Das Wandern in die Nacht hinein und später im Dunkeln hat seine eigenen Reize. Man begleitet zu Fuss die letzten wenigen (Sonnen-)Stunden am Nachmittag, erlebt die vielfältigen Lichtspiele in der Dämmerung und beim Sonnenuntergang, spürt, wie das Leben im Wald mit dem Ende des Tages auch langsam ruhiger wird, wohlwissend, dass mancher tierische Waldbewohner gerade dann erst zum Leben erwacht und aktiv wird.
Ist es dann dunkel, versuchen die Augen anfangs die Dunkelheit zu durchdringen. Das gelingt nicht sofort, sie gewöhnen sich dann doch recht schnell an die veränderten Lichtverhältnisse. Dennoch bekommen andere Sinne auf einmal eine grössere Bedeutung. Ohren und Nase übernehmen die Hauptarbeit bei der Aufnahme und Verarbeitung der Eindrücke. Das Singen der Vögel, das Rascheln im Unterholz, der Geruch von frischem Grün, die gereinigte Luft nach einem Regenguss oder auch dünne Spinnweben auf der Haut drängen in den Vordergrund.
Glücklichweise bietet die Natur uns nicht so viele komplett verschiedene Eindrücke, dass es zu einer Reizüberflutung kommt. Unser Geist nimmt sich die Zeit, und hat sie auch, das Neue gut aufnehmen und erfassen zu können.
Vollgepackt von diesen doch eher unbekannten nächtlich-wäldlichen Eindrücken und dem Glücksgefühl, zu Fuss unterwegs zu sein, versinke ich eine komplett friedliche innere Stimmung. Nehme die Mystik der Stimmung auf. Ich bin im Geniessermodus angekommen, der Kopf hat seine Arbeit wie von selbst eingestellt. Wie von Geisterhand gesteuert, finden meine Füsse ausserdem immer einen sicheren Halt, dank des fast-Vollmondes und trotz des feuchten Wetters.
Ich könnte jetzt immer weiterlaufen.
Der Veranstaltungsplan war anderer Meinung. Und das war ebenfalls gut so. Nach einer kurzen Verpflegungspause beginnt der schönste und eindrücklichste Teil der Wandernacht.
Das Heulen der Wölfe
Unsere nun tiefnächtliche Wanderung führte uns vorbei am Wildpark Langenberg, den es schon seit rund 150 Jahren gibt und der auch in der Nacht für Besucher geöffnet ist. Am grossen Gehege der Wölfe angekommen, versuchten wir einen Blick auf die scheuen Tiere zu erhaschen. Im Licht einer Taschenlampe erspähten wir sie: erst ein mutiges Tier, das den Anfang macht, bis es zur buchstäblichen Rudelbildung kommt. Unsere menschlichen Wolfsgeheulversuche blieben unbeantwortet – vorerst.
Isabelle und Nadine, unsere beiden Gastgeberinnen des veranstaltenden Wildnisparks Zürich, warten nun mit einer weiteren Überraschung auf: mit Fackeln wandern wir zum Abschluss durch das Gontenbachtobel.
Im feuchten Wetter ist es gar nicht so einfach, alle Fackeln anzuzünden. Es gelingt dennoch. Gerade als wir mit unseren lodernden Fackeln in der Hand starten wollen, erstarren wir plötzlich, die Gespräche stoppen sofort. Mir läuft ein kleiner Schauer über den Rücken.
Die dunkle Nacht erwacht zum Leben.
Die nächtliche Stille des Waldes, nur durch unsere wenigen Fackeln etwas erhellt, wird durch ein vielstimmiges Wolfsgeheul durchbrochen. Gebannt lauschen wir den Tieren, wohlwissend, dass uns nichts passieren kann. Diese Sekunden, die sich wie Minuten anfühlen, halten uns gefangen.
Das Besondere und Unerwartete dieses Moments langsam begreifend, wandern wir los. Die Freude über diese intensive Überraschung findet sich in den eigenen Gedanken und den Gesprächen untereinander wieder.
Wie schön wäre es, heulende Wölfe einmal in freier Wildbahn erleben zu können?
Mit den lichtspendenden Fackeln in der Hand steigen wir das rauschende Gontenbachtobel hinab. Das Licht des Feuers reicht allemal aus, uns sicher hinab zu begleiten. Der kleine laute Bach, der sich direkt neben unserem Weg ebenfalls in die sanfte Tiefe stürzt, gibt diesen letzten Wandermetern einen eigenen Charakter. Ich denke an Freiheit und Wildnis, an ungebändigte Energie und das Heulen der Wölfe, bevor ich keine fünf Minuten später wieder in der Zürcher Zivilisation stehe.
Diese ersten Minuten im Lichtkegel der Strassenlaternen wirken auf mich ein bisschen paradox. Ich brauche diese kurze Zeit, um wieder mit Körper und Geist auf dem Asphalt anzukommen.
Dann breitet sich ein Grinsen auf meinem Gesicht aus. Die Freude über diese schönen Stunden entfaltet ihre gesamte Kraft. Ich bin dankbar, dem Regen und der Wettervorhersage getrotzt zu haben und dabei gewesen zu sein auf dieser fast trockenen und sehr gelungenen Schweizer Wandernacht 2016 bei fast-Vollmond.
Je länger die Nacht, desto zahlreicher die Träume. (Fernöstliche Weisheit)
Weitere besondere Wanderveranstaltungen:
24-Stunden-Wandern in Schweiz, Deutschland und Österreich: http://www.wandern.ch/de/magazin/an-seinen-grenzen-wandern
Deutscher Wandertag 2017 in meiner Heimatstadt Eisenach: http://www.wandertag-2017.de/
Wie schön wäre es, heulende Wölfe einmal in freier Wildbahn erleben zu können? Click To Tweet